Sehr geehrter Herr Metz, lieber Pit
sehr geehrter Herr Becker, lieber Johannes
vielen Dank für Ihren / Euren offenen Brief. Er macht mir wieder einmal deutlich, wie viele engagierte Menschen es in Marburg gibt, deren Rat und Hinweise mir wichtig sind. Ich würde mir wünschen, wir hätten mehr Räume, in denen wir solche Diskussionen direkt führen könnten, z. B. in einem kommunal-politischen Salon. Der Brief und die Antwort haben mir geholfen, selbst manche Aspekte noch klarer zu sehen und zu benennen.
Ihre Sorge um den Erhalt der Stadtgesellschaft nehme ich sehr ernst, teile sie aber nicht. Schauen wir etwas genauer hin: die Aufwendungen für das Jugendamt steigen um 2.700.000 Euro, für das Sozialamt um 500.000 Euro. Darunter sind erhebliche Mehrausgaben für die Jugendhilfe, für Kinderbetreuung als hochwertiges Bildungsangebot, aber auch für den Stadtpass direkte Zuwendungen für Menschen in Hartz IV oder für den Unterhalt von Kindern alleinerziehender Frauen, deren Väter nicht bezahlen (können). Und natürlich spielt hier hinein, was für die Aufnahme und Integration der neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die von Krieg und Verfolgung vertrieben wurden, nötig ist. Denn gerade diesen Menschen wollen wir nicht nur mit offenen Gesten, sondern auch mit guter Unterstützung begegnen. Das alles stärkt und stabilisiert die Stadtgesellschaft.
Wo wird tatsächlich gespart?
Vor allem in der inneren Verwaltung: bei der Personalverwaltung, bei der Kasse, bei der Wirtschaftsförderung, im Rechtsamt, im Meldewesen. Brandschutz und Ausländerbehörde steigen gering an im Brandschutz ist Schutz der Einsatzkräfte erste Priorität und in der Ausländerbehörde gab es erhebliche Engpässe, die jetzt abgebaut werden. Aber auch die Gebäudewirtschaft, die hunderte Gebäude, Schulen, Sporthallen verwaltet, spart genauso wie die Stadtplanung und soweit möglich der Hochbau. In der Grünflächenverwaltung muss noch nachgebessert werden.
Erheblich gespart wird auch beim Sport. Bei den Schulen dagegen steigen – jedenfalls gegenüber 2015 – die Mittel, wenn auch weniger als erwartet. Ein Beispiel: die Richtsberg-Gesamtschule hat u. a. zur Demonstration aufgerufen, weil an der Schulbibliothek gespart wird. Das ist richtig, aber auch nur halb richtig: für Schulbudget plus Bibliothek erhielt die Schule 2015 rund 21.000 EUR, 2017 sind es rund 24.500 EUR (und nicht die erwarteten knapp 26.000 Euro). Die Schule demonstriert, weil die jährliche Steigerung ihres Budgets nur noch neun Prozent Steigerung pro Jahr beträgt. Ich kann das nur sehr bedingt nachvollziehen. Und auch die Hausaufgabenbetreuung wird reduziert erstmal fortgesetzt.
Auch die Kultur spart, in mäßigem Umfang. Der Gesamtanstieg gegenüber 2013 sinkt auf 7,5 %. Man mag das neue Haus der Stadtgesellschaft kritisieren, aber das KFZ hat gerade einen Quantensprung erlebt. Das Theater hat wieder ein großes Haus, und zahlreiche Künstler von überregionaler Bedeutung kommen wieder nach Marburg das Haus ist super belegt. Für die Waggonhalle werden wir immerhin 2,4 Millionen Euro, davon 1,4 Millionen städtisches Geld, für die Sanierung einsetzen. Für die professionellen freien Träger werden wir im Nachgang noch in eine Altersversorgung einsteigen. Das gehört zur Wahrheit dazu.
Aber natürlich macht das die Situation mancher freien Träger, Kulturvereine etc. nicht besser, weil auch hier ein Beitrag für die laufenden Ausgaben geleistet werden muss. Gerade hier hatte ich andere Vorstellungen, wenn wir denn die Mittel hätten. Das bedeutet eine Einschränkung, aber auch hier geht nichts kaputt, dafür werden wir sicher sorgen.
Warum ist diese Konsolidierung nötig?
Marburg hat in den letzten Jahren jedes Jahr rund zehn Millionen Euro mehr ausgegeben. Dem sind die Einnahmen nicht gefolgt. Bereits 2014 schließt mit über 6 Millionen Euro Defizit ab. 2015 ist trotz 45 Millionen Euro einmaliger Nachschlag vermutlich nur um die 33 Millionen Euro im Plus. 2016 wird ebenfalls mit einem zweistelligen Millionenminus abschließen. Schon 2014 hat Egon Vaupel auf ein drohendes strukturelles Defizit hingewiesen. Das ist jetzt da.
Eine Ursache ist, dass wir viel investiert haben. Deshalb sind die Abschreibungen um eine Mio. Euro pro Jahr gestiegen. Und auch erhebliche Folgekosten entstehen: Kindertagesstätten z. B. betreiben sich nicht allein, sondern brauchen Personal, Heizung, Lebensmittel etc. Der städtische Zuschuss pro Platz und Jahr liegt bei 7.000 9.000 Euro.
Das waren alles sinnvolle Investitionen und Maßnahmen, aber so sind die Finanzen etwas aus dem Ruder gelaufen. Trotz aller Einsparungen hat der Haushaltsentwurf fast fünfeinhalb Millionen Euro Defizit. Das bedeutet: alle Investitionen auf Kredit plus 5,5 Millionen Kredite für laufende Ausgaben. Das geht nicht, weil es auf Dauer der Stadt schadet, weil wir trotz der niedrigen Zinsen für 2017 mit zweieinhalb Millionen Zinsen rechnen und weil irgendwann die Kommunalaufsicht eingreift, wenn wir weiterhin defizitäre Haushalte haben. Es steht uns nicht frei, so zu agieren, jedenfalls nicht auf Dauer.
Um zu stabilen Verhältnissen zurück zu kommen, müssten wir mindestens fünf Millionen bei den laufenden Ausgaben einsparen. Seriös siehe unten zur Gewerbesteuer wäre, wenn wir eher zehn bis fünfzehn Millionen Euro weniger ausgeben. Das geht nicht sofort, sondern nur in einem langsamen Umbauprozess in der Verwaltung. Deshalb spare ich jetzt dort, wo es kurzfristig möglich ist, und fange an, das strukturelle Defizit in den Strukturen abzubauen. Aber das dauert und ist zäh.
Arbeitsplätze?
Das Argument, dass davon Arbeitsplätze betroffen sind, ist richtig. Aber auch hier wundert mich der Fokus: in den letzten Jahren hat die Stadt jährlich rund vierzig Millionen Euro investiert. Das trägt erheblich zum Problem bei: was fertig ist, muss seit 2009 wie bei privaten Unternehmen abgeschrieben werden. Der Landtagsabgeordnete Thomas Spies hat das sehr kritisch gesehen, der Oberbürgermeister muss es trotzdem umsetzen.
Wir müssen also die Investitionen schrittweise auf 20 Millionen Euro jährlich reduzieren. Das trifft vor allem Handwerk und Gewerbe, und natürlich hier in der Region. Diese Betriebe sind am meisten vom Sparen betroffen, und daran hängen weit mehr Arbeitsplätze als an 200.000 Euro (= vier Stellen) im Sozialbereich. Vertretbar ist das nur wegen der guten Baukonjunktur, und auch deshalb verteidige ich das Bildungsbauprogramm so hartnäckig gegen Grüne und Linke (die dem noch nie zugestimmt haben): die Aufträge werden vor allem an lokale Handwerksbetriebe gehen. Und nur am Rande, auch wenn ich keine Kausalität behaupten will: nach der letzten Gewerbesteuererhöhung zum 1. 1. 2016 wurden rund 250 Arbeitsplätze am Pharmastandort abgebaut. Wir hoffen, dass sie bis 2019/20 wieder aufgebaut werden.
Kritisch prüfen müssen wir auch den städtischen Dienstleistungsbetrieb, den auch die Grünen besonders im Blick haben. Der ist unter Arbeitsmarktaspekten besonders kritisch: hier finden auch Menschen reguläre, tarifgebundene Arbeit, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sehr schlechte Chancen hätten. Deshalb müssen wir hier sehr behutsam sein.
Starke Schultern sollen mehr tragen
Ja: starke Schultern sollen mehr tragen als schwache Schultern. Das ist richtig, das teile ich uneingeschränkt. Deswegen sind die Kindergartengebühren für die geringeren Einkommen letztes Jahr abgesenkt worden! Deswegen steigen die Ausgaben für den Stadtpass, ein zentrales Teilhabeinstrument, um mehr als die Hälfte, für Unterhaltssicherung von Trennungskindern verdoppeln sie sich. Deshalb beschäftigt der Dienstleistungsbetrieb auch Menschen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Chance hätten. Deshalb werden wir mehr für die Obdachlosenhilfe und für ein Beschäftigungsprojekt aufwenden. Ich könnte noch viele Beispiele nennen. Das alles entlastet schwächere Schultern.
Allerdings haben Kommunen kein gutes Instrument, um die starken Schultern heranzuziehen. Jederzeit unterstütze ich eine deutliche Anpassung von Einkommenssteuerspitzensatz und Vermögenssteuer durch Bund und Länder. Damit könnte auch für die Kommunen das Geld zusammenkommen, mit dem KiTas kostenlos, Straßen saniert, alle Radwege gebaut und soziale und kulturelle Projekte deutlich besser finanziert werden können.
Aber das persönliche Einkommen Reicher und Superreicher meint Ihr nicht! Gemeint ist die Gewerbesteuer. Wäre es nicht ganz einfach, durch eine Erhöhung der Gewerbesteuer die Starken zu belasten und alle schönen Projekte zu erhalten?
Zunächst: die Gewerbesteuer belastet nicht die starken Schultern, jedenfalls nicht die starken Schultern von Menschen und sicher nicht unmittelbar. Sie belastet kleine und mittlere Betriebe, die hier nicht wegkönnen und die vor allem Ausbildung und Beschäftigung für nicht-Akademiker sichern. Und sie belastet große Unternehmen mit Standortwahl. Denn als Standort konkurrieren wir nicht mit Giessen oder Brandenburg, sondern mit Irland, der Schweiz und Illinois.
Wenn wir Marburg ansehen, dann reden wir nicht über volkswirtschaftliche oder gar supranationale Dimensionen. Wir sprechen über ein ökonomisches Miniaturbiotop: ein Drittel unserer Einnahmen stammen von fünf Unternehmen. Würde eines dieser Unternehmen ernste Probleme bekommen (Pharmaindustrie: ein Problemprodukt reicht für dramatische Einbrüche) oder weggehen (unwahrscheinlich) oder seinen Schwerpunkt verlagern (durch Trump nochmal deutlich wahrscheinlicher für den amerikanischen Markt) oder steuerliche Gestaltungsoptionen anders nutzen (das geht schnell), so wären die derzeitigen Einsparungen ein Witz im Vergleich zu dem, was uns dann erwarten würde.
Das passiert natürlich nicht gleich nach einer Erhöhung. Vielleicht passiert es auch ohne Erhöhung. Wesentlich ist: es liegt leider nicht in unserer Hand.
Wir sind schon jetzt in einem kritischen Ausmaß von der Gewerbesteuer abhängig.
Wie gesagt: ein Drittel unserer Einnahmen stammen von fünf Unternehmen. Hustet Görzhausen, so hat Marburg schwere Lungenentzündung. Wir hatten die letzten Jahre nur unverschämtes Glück – bis auf den schweren Einbruch im März letzten Jahres gab es fast jedes Jahr Zuwächse, und auch letztes Jahr gab es dann zum Glück noch eine Nachzahlung. Eine Gewerbesteuererhöhung zur Lösung struktureller Probleme der Stadt macht das noch schlimmer, nicht besser! Denn wir würden noch abhängiger und anfälliger.
Umso wichtiger ist es, dass wir das strukturelle Defizit unter Kontrolle bekommen. Wir dürfen nicht noch abhängiger von nur fünf Unternehmen werden, deren Top-Management irgendwo auf der Welt sitzt und sich nicht für die Schwachen in Marburg interessiert. Wir müssen unsere Lage in eigener Stärke in den Griff bekommen. Das ist die linke Position!
Mit den großen freien Trägern der sozialen Infrastruktur habe ich mich verständigt
Es geht nicht um Sparen um jeden Preis, sondern um eine vorsichtige Konsolidierung, um die besonderen Strukturen dieser Stadtgesellschaft zu erhalten. Nichts wird kaputtgehen, dafür sorge ich. Mit den großen freien Trägern der sozialen Infrastruktur ist eine maßvolle Sparstrategie vereinbart, verbunden mit dem Angebot, gemeinsam in einer kooperativen Sozialplanung die Weiterentwicklung und Verbesserung sozialer Hilfen zu betreiben. In der Kultur werden wir sicherstellen, dass nichts kaputtgeht, und wieder weiter aufbauen, wenn die aktuelle Situation unter Kontrolle ist.
Eine persönliche Bemerkung zum Schluss.
Von einigen Unterzeichnern weiß ich, von manchen vermute ich, dass sie mich bei der Wahl zum Oberbürgermeister unterstützt haben. Viele kenne ich seit vielen Jahren aus vielen Diskussionen und Gesprächen. Umso mehr verwundert mich die Sorge, ich würde meine Einstellung oder mein Handeln für die Stadt von politischer Farbenlehre bestimmen lassen. Der allergrößte Teil von allem, was die Stadt gestaltet, erfolgt durch Handeln der Exekutive, also von Magistrat und Verwaltung. An deren Spitze stehe ich. Und die Spitze prägt die Orientierung.
Lieber Pit, lieber Johannes,
Ich verstehe Eure Sorge. Haushaltskonsolidierung ist kein Spaß, und ich erwarte von denjenigen, die erheblich und persönlich betroffen sind, auch kein Verständnis.
Aber von Euch beiden würde ich mir ein bisschen mehr Vertrauen wünschen.
Herzliche Grüße
Thomas Spies
P. S.: ich würde mich freuen, wenn Ihr auch den Mitunterzeichnern und Euren Verteilern die Antwort zur Kenntnis gebt.