Eva Lange und Carola Unser leiten seit 2018 gemeinsam das Hessische Landestheater Marburg als erste Doppelspitze. Im Sommer 2022 inszenierte das HLTM unter Regie von Unser zum 800jährigen Stadtjubiläums ein Jubiläumsstück für Marburg: „800 (Das Theaterstück) oder Rosenwunder Premium Reloaded“.
Wie ist die Idee zum Jubiläumsstück zum 800jährigen Stadtjubiläum entstanden und wie kam es dann zu genau diesem Stück?2018/2019 war klar, dass dieser große Geburtstag auf die Stadt und die Stadtgesellschaft zukommt. Als Theater waren wir im Gespräch mit dem damaligen Kulturamtsleiter Richard Laufner, der ja dann auch Jubiläumskurator wurde, und uns dann motiviert hat auch zu sagen: wir machen da was Großes für Marburg. Früh kam es dann auch zu der Idee, dass wir gerne die Stadtgesellschaft in den Prozess involvieren wollen würden. Dann haben wir vorgeschlagen, dass Marburg zum ersten Mal eine Stadtschreiber*in installiert. Das gab es in der langen Geschichte dieser Stadt noch nicht – was erstaunlich ist. Und da wir schon erfolgreich mit Anah Filou zusammengearbeitet hatten, haben wir sie vorgeschlagen – um einen Blick von außen zu haben, dass man sich nicht nur im eigenen Sud reflektiert, sondern wirklich auch mit einem fremden Blick sich diese Stadt anguckt. Diesen neugeborenen Gedanken haben wir dem Jubiläumsbüro vorgeschlagen, das hat Gefallen gefunden und dann haben wir weitergemacht.
Dann hat Anah Filou drei Monate unter den großen Motti des Jubiläums „Marburg erfinden, Marburg erleben und Marburg erinnern“ recherchiert, hat über hundert Gespräche geführt, hat den Großteil aller Stadtschriften gelesen, hat hier in der Stadt gelebt, hat Sport gemacht mit einer Gruppe, hat die Kneipen der Stadt erlebt, eine Sprechstunde angeboten. Und wir haben jeweils zu Beginn der jeweiligen Recherchephase einen Kickoff und am Ende ein kleines Resümee gemacht, haben ganz am Ende der Recherchezeit auch einen Fragebogen gemacht. Das Ziel war ganz viel im Gespräch zu sein mit Menschen der Stadtgesellschaft. Sie war auf dem Richtsberg, in Cappel, in Wehrda, in allen Stadtteilen, hat diverseste Spaziergänge gemacht, kennt die Stadt, glaube ich besser als wir, die wir seit über vier Jahren hier leben. Mit diesem ganzen Material ging sie dann in Klausur in Wien und hat angefangen zu schreiben. Und darüber wurde dann klar, dass die Partizipation nicht nur im Prozess stattfinden sollte, sondern auch in der Umsetzung. Dass wir gerne Menschen einladen wollen würden teilzuhaben dieses Stück für Marburg auf die Bühne zu bringen. Dann kam es zur Entscheidung für das Gassmann-Stadion, das war zum einen der Grund, weil so viele Menschen involviert sein sollten, und zum anderen von der Tribüne aus ist die Stadtsilhouette eigentlich der Hintergrund, was schön ist. Man hat vom Schloss bis zum Richtsberg, den Affenfelsen dazwischen, viele elementare Gebäude in Sichtweite außer die Elisabethkirche leider. Und das war so ein Aha-Moment, denn wir sind so rumgefahren, haben geschaut wo es denn stattfinden könnte und haben gemerkt, der Ort ist cool. Außerdem spricht ein Sportstadion natürlich nochmal andere Menschen an und was wir dann im Proben gemerkt haben, wir haben öffentlicher denn je geprobt: die Läufer haben parallel ihre Runden gedreht, die Kids haben Bundesjugendspiele gemacht und wir haben halt geprobt. So kam es dann auch zu Gespräch und Diskurs. Ich glaube wir haben versucht dieses Stück so partizipativ, wie nur geht, auf die Bühne zu bringen und das ist auch gelungen.
Die Aufführungen liegen ein paar Wochen zurück. Wie blickt das Theater, wie blicken Sie als Intendantinnen auf die Umsetzung des Stückes und auf die Reaktionen des Publikums zurück?
Das ist eine sehr gute und schwierig zu beantwortende Frage. Wir möchten so beginnen: für unser kleines Haus mit 75 Mitarbeitenden war das ein Riesending – und es war auch an der Grenze zur Überforderung, weil es einfach von den Kapazitäten her alle sehr gefordert hat. Durch die Größe, nur durch die Spende der Sparkasse war der Einsatz der Ton- und Lichttechnik möglich und auch das Licht, da ein Stadion einfach andere Dimensionen hat als wir sonst kennen. Gleichermaßen hat uns gefreut, dass unser Haus zeigen konnte, was für unglaubliche Künstler*innen und Handwerker*innen wir haben. Seit Januar war in jeder Werkstatt irgendwas am Machen für 800. Und das hatten wir auch gar nicht mehr so unter Kontrolle, wollten wir auch gar nicht. Die Maske hat die drei Köpfe für die Religionsgespräche wirklich mit bestem Handwerk dahingestellt. Erst wurde ein kleines Modell gemacht, dann wurde es großgezogen, dann gab es erst ein Positiv und dann ein Negativ, dann wurde es nochmal überzogen, damit es auch tragbar war, dann haben die Schreiner geguckt, dass es auch auf die Schultern passt. Unsere Requisiteurin, die auch Kascheurin ist, hat ein Relief gemacht, um Philipp da auf dieses Rhönrad zu bekommen. Da ist ganz viel entstanden und wir glauben es ist toll, dass unsere Werkstätten zeigen konnten, was wir an Theaterhandwerk so draufhaben. Wir hatten manchmal das Gefühl, hoffentlich ging das nicht zu sehr unter. Oder unser Wollnashorn, das ist tatsächlich eine kostümtechnische Großleistung gewesen, dieses Riesending zu zimmern. Von daher würden wir sagen: wow, wie toll, dass sich unser Haus so toll zeigen konnte.
Der Prozess für mich als Regie mit den Amateur*innen war unfassbar toll. Also ich habe ja seit Januar mit Jugendlichen geprobt und ich fand das faszinierend, wie Menschen zwischen 15 und 22 an diesem doch recht komplexen und schwierigen Text dranblieben, wirklich zu einem Ensemble wurden, was den Abend mitgetragen hat. Und das gilt eigentlich für jede Gruppe. Die Jugendlichen haben am längsten gearbeitet, deswegen würde ich die gerne hervorstellen. Aber das ging auch mit den Cha-Cha-Ladies, die immer mehr zu einem Ensemble wurden und sich involviert haben. Auch der Chor und die Statist*innen, die ganz spät dazukamen, die wirklich auch eine tragende Stütze waren, weil sie die Stadtgeschichte innerhalb von 12 Minuten eigentlich runtergerissen haben sozusagen. Das fanden wir toll. Wir haben dann auch danach einen gemeinsamen Abschluss gemacht, wo ganz viele da waren, wo ich so das Gefühl hatte, das hätten wir noch intensiver machen können, aber es ist schon ganz gut gelungen und ich freue mich sehr, dass da jetzt Menschen sind, die sich quasi durch das Dabeisein für Theater auch begeistern und für die Stadt begeistern und das auch als ihr Geschenk als Bürger*innen für die Stadt verstehen, das finde ich wunderschön.
Wie das Publikum das fand ist, glauben wir, sehr gespalten. Wir hatten sehr kritische Stimmen. Einige wenige fanden wir auch sehr respektlos, wo man so denkt: ihr könnt es nicht mögen, aber dann sagt es doch bitte in einem respektvollen Ton. Social Media hat natürlich da Auswirkungen drauf. Manches hat mich sehr getroffen, aber unter dem Strich hatten wir wahnsinnig tolle Rückmeldungen bekommen. Es gab auch Begeisterungsstürme und es gab auch tatsächlich so einen Eindruck als würde das Stück dann auch viele verschiedene Klientelgruppen ansprechen können. Es waren ganz viele Kinder da, die das abgefeiert haben, weil es so viel zu sehen gab. Ich habe mit dem Sohn einer Schauspielerin das Stück mal geguckt und der war so total fasziniert ganz lange und irgendwann sagte er: jetzt ist ihm aber auch langweilig, um dann fünf Minuten später wieder zu sagen: oh ja krass, da kommt ja die Weltkugel. Dann haben wir gemerkt, dass viele Menschen mit Beeinträchtigungen da waren. In der Premiere war eine Gruppe, die war total begeistert und dann haben wir alle Lebenshilfegruppen angeschrieben und die waren ganz begeistert, zugetan und wohlwollend und fanden es super.
Es ist ein Stück, was jetzt nicht irgendwie bedeutet: alle finden es richtig geil. Aber wir finden das wäre für Marburg auch irgendwie falsch. Man hat das Gefühl es wird ordentlich viel diskutiert, wir haben ja auch als Programm den Stücktext mit über hundert Fußnoten verschenkt und den kann man auch immer noch bei uns bekommen, wenn man das möchte. Es ist wirklich ein Theatererlebnis, was auf den ersten Blick wirkte, aber was in der Auseinandersetzung dann mit Text und Inszenierung auch nochmal mehr Genuss bedeuten kann. Und von daher würden wir sagen unter dem Strich sind wir total zufrieden und dankbar, wie das lief. Wir hatten wahnsinnig Glück mit dem Wetter, es war eine tolle Zusammenarbeit mit Herrn Backes und dem Hausmeisterteam im Stadion. Wir waren da ja Eindringlinge. Die Gruppen vor Ort, die Frisbeespieler*innen, die Mercenaries, denen haben wir ja Trainingszeit geklaut. Und trotzdem war es ein sehr konstruktives und friedliches miteinander umgehen. Unter dem Strich war das eine richtig gute Sache und was wir gerne mitnehmen würden, ist das Theater so offen ist wie die Stadtgesellschaft. In der Form haben wir das noch nie erlebt. Und das finden wir tatsächlich auch richtungsweisend. Wir wissen noch nicht ganz, was das bedeutet, denn natürlich können wir nicht wieder so ein Stück machen mit hundert Leuten oder auch mit diesem langen Prozess, also es war ja wahnsinnig intensiv, energieraubend und auch teuer. Aber diese Idee von „Theater muss sich öffnen“, da hat was gestimmt und da suchen wir jetzt in der Reflektion noch, was das bedeutet für eine Zukunft, die gerade geprägt ist von Post-Corona- Zuschauer*innenzahlen, von der Einsicht, dass wir uns als Theater wirklich auf die Hinterbeine stellen müssen, dass wir die ganze Stadtgesellschaft ansprechen und nicht nur Teile davon. Deswegen sind wir sehr gut mit dem Projekt, auch ob der Inspiration für die Zukunft.
Es gibt eine neue Kooperation in Marburg zwischen dem AStA (Allgemeiner Studierendenausschuss) und dem Hessischen Landestheater: für einen Euro pro Semester können Studierende mit dem Kulturticket für Vorstellungen ohne zusätzliche Kosten Tickets bekommen. Welches Ziel steckt dahinter und warum lohnt sich diese Kooperation für das Theater?
Seit Anbeginn unserer Intendanz sind wir hinterher dieses Kulturticket hier einzuführen und waren irgendwie auch an einem Punkt, wo wir dachte: hach, das funktioniert in Marburg nicht, warum? Es gibt das einfach in ganz vielen Universitätsstädten und in Hessen ist Marburg tatsächlich eine der letzten Städte, die das jetzt einführt. Was erhoffen wir uns? Tatsächlich haben wir in unseren vier Jahren – trotz diverser Angebote wie Studitage usw. – immer wieder die Rückmeldung bekommen, dass natürlich für Studierende Geld eine Barriere ist und dass das Menschen davon abhält an Kultur teilzuhaben. Das ist für uns eigentlich die Hauptmotivation gewesen zu sagen, das ist ein Solidarakt. Jeder Studierende zahlt einen Euro und dafür können Studierende die ganze Spielzeit – außer bei Premieren und Gastspielen – einfach kommen. Es ging uns vor allem darum diese finanzielle Barriere zu senken und Menschen, speziell Studierende einzuladen, an Theater teilzuhaben. Die Erfahrung aus anderen Städten zeigt, dass das durchaus – also nicht kapitalistisch-ökonomisch, aber wir möchten Kultur auch nicht in ökonomischen Zwängen denken, sondern ich möchte Kultur denken als ein demokratiestiftendes Moment und deswegen finden wir diese Einladung an der Stelle für uns als Theater durchaus lohnenswert im Blick auf Gemeinschaft, im Blick auf unseren ursprünglichsten Auftrag der Demokratiebildung.
Der Plan ist jetzt das ein Jahr zu testen, um zu gucken, wie das anläuft. Wir sind jetzt schon mit dem AStA im Gespräch, um das möglichst gut zu bewerben, damit es viele mitbekommen. Wir werden es auch statistisch festhalten, um zu sehen, ob es gut läuft. Und der langfristige Plan ist natürlich viele andere Kultureinrichtungen in Marburg mit hineinzunehmen, um dann zum Kassler Modell zu kommen, wo Museen und Veranstaltungen dabei sein. Wir wollen nicht der singuläre Player sein, wir wollten nur Vorreiter*in sein und schauen, wie kann es funktionieren und wie kriegen wir ein Kulturticket auf breiter Ebene hin.
Bald beginnt die neue Spielzeit. Was erwartet die Marburgerinnen und Marburger ab September im Theater?
Am 16.9. werden wir eröffnen. Angesichts der Weltlage, der gerade fast durchstandenen Pandemie haben wir uns entschieden ein Spielzeitthema zu wählen, was sehr positiv, zuversichtlich, nicht weltfremd, aber doch hoffend sagen möchte: Leute, wir müssen das irgendwie zusammen schaffen. Deswegen lautet das Motto „Konstruktion Hoffen“ und unter diesem Leitfaden versuchen wir den Menschen Kultur anzubieten, die inspiriert, die kritisch bleibt, die zu Diskursen einlädt und uns alle darin schult konstruktiv und zuversichtlich zu genießen, aber auch Welt mitzugestalten – um mal in ganz großen Worten zu sprechen, wohlwissend wie schwer das ist und dass es oft nur im Kleinen passiert.
Informationen zu den einzelnen Angeboten findet Ihr auf hltm.de und in den Flyern des HLTM.